Sie verändert sich immer wieder, braust los, kommt unvermutet, schleicht sich ein, ist friedlich, sogar liebevoll, hat aber seit einiger Zeit Tendenzen. Sie überrascht mich, macht mir sogar Hoffnung, gleichzeitig auch große Sorgen, aber eins macht sie ganz sicher nicht mehr: sie lässt mich nicht mehr verzweifelt in meinen Gedanken zurück, lässt mich einsam dastehen wie ein Häufchen Elend. Dieses Bild des Häufchen Elend habe ich ganz heftig beim Konzert mit dem Brahms-Requiem gespürt und mir ist irgendwann einmal ein passendes Bild mit meinen „Häufchen“ in den Sinn gekommen, das mir hilft, meine Gefühlszustände seit dem Tod meiner geliebten Sybille einfach zu beschreiben. Allerdings: einfach ist das nie gewesen, auch das in Worte zu fassen. So will ich einmal dieses Bild bemühen. Dazu zurück auf Anfang: dem Tod von Sybille. Ich konnte ja die erste Woche überhaupt nicht weinen. Ich spürte eine unendliche Dankbarkeit und eine große Erleichterung für Sybille, aber auch für mich, das muss ich ganz ehrlich sagen. Dieses Häufchen der Dankbarkeit war riesengroß, das der Trauer relativ klein. Es war da, aber nicht erdrückend. War es vom Körper vielleicht auch ein Selbstschutz? Besuche bei meinen Bruder Johannes und die vielen Gespräche taten mir gut. Nach einer Woche brach dann schlagartig so richtig die Trauer und der unendliche Schmerz aus mir heraus, mitten auf einem Spaziergang im Wald und ein neues Häufchen tat sich auf: das Häufchen der Verzweiflung, das wuchs schnell und bekam viel von der Dankbarkeit und die widerum gab auch viel an das Häufchen der Trauer ab. Ich hatte kein Mittel gegen diese Verschiebungen und es ging mir damit natürlich garnicht gut. Ich hatte mich nicht mehr unter Kontrolle, ich war verzweifelt. Ich wollte zwar eigentlich den „Zustand“ der ersten Woche gerne erhalten, konnte es aber nicht. Im Nachhinein weiss ich, du musst das Ganze wohl immer wieder durchleben, du kannst dich nicht dagegen wehren oder drumherum drücken, nur daraus lernen und vor allem: du musst alles zulassen. Du musst mitten durch die Trauer gehen, alles stürzt auf dich ein, es gibt keinen besseren oder sogar einfacheren Weg. Das hab ich (zwangsweise) zugelassen. Der Verstand kapierte das schnell, aber die Seele war noch lange nicht bereit. Man denkt in der Situation, man würde verrückt. Gespräche mit Menschen gleichen Schicksals zeigten einem aber immer wieder: alles normal, allen geht es so. Also wehrte ich mich nicht mehr gegen die Attacken und Stiche mitten ins Herz und der Seele. Ich hoffte nur, dass sie schnell vorbei gehen würden.
Einen eindeutigen Wendepunkt auf meinem steinigen Trauerweg spürte ich durch die Träume, die ich von Sybille hatte, als ich mit Corona Zuhause alleine war und nochmal mit meinem „Brief von Sybille“, den ich mir geschrieben hatte. Ich bin mit dem Schreiben aktiv geworden, weil ich merke, wie gut mir das tut und hilft, indem ich meine kreisenden Gedanken verwörtere. Irgendwann fiel mir auf, dass das Häufchen der Verzweiflung sich völlig aufgelöst hatte. Es gab auch kein Häufchen Elend mehr. Mit meinem Trauerhäufchen konnte ich jetzt immer mehr „arbeiten“ und leben. Diese aktive Verarbeitung, durch viel Gespräche, die Trauergruppe und der Therapie, hat sich diese Entwicklung meiner Meinung nach und nach beschleunigt und wenn die Trauer und der Schmerz mich wieder übermannte, so war diese Phase immer schneller auch wieder vorbei. Ich habe so immer mehr meinen „Seelenfrieden“ mit Sybille gefunden und aktiv Schäufelchen für Schäufelchen von meiner Trauer und dem Schmerz an die Dankbarkeit abgeben können. Das fühlt sich so so gut an und ich behaupte derzeit mal, ich werde nicht wieder zu manch ganz schrecklichen Momenten zurück kommen. Ich habe das kapiert, habe das akzeptiert und vor allem: ich habe vieles umgesetzt, in meinen Alltag integriert, es ist in meiner Seele angekommen. Nachdem sich Sybille gefühlt immer mehr von mir entfernte, so rückt sie so immer mehr wieder an mich heran und ich „profitiere“ von den schönen 35 Jahren. Der „Einfluss “ von Sybille in meinem Tun und Handeln spüre ich immer mehr, das ist einfach schön und das hilft mir, mein neues Leben zu akzeptieren und wieder aus einer langen „Lähmung“ heraus zu kommen, wieder aktiver zu werden und für mich meine neue Identität zu finden. Ich bin halt nicht mehr Ehemann und Pfleger. Mir ist klar, das ist jetzt kein schneller Weg und er wird/ist ein harter, aber zugleich auch spannender Weg. Das kann ich inzwischen deutlich spüren. Apropos Deutlichkeit: mir ist im Augenblick der Blick auf mein Leben ganz klar vor Augen und mein Gehirn fühlt sich gut sortiert. Habe da auch in den letzten Monaten viel investiert, das ich jetzt so „aufgeräumt“ daherkomme. Mir fällt ein, dass ich diesen Zustand schon einmal vor Jahren hatte, als ich eine akute Gallensteinoperation hatte. Durch ein morphinhaltiges Schmerzmittel hatte ich haluziniert und damals trotz mehrtägigen Wachsein hatte ich auch so ein klaren Blick auf mein Leben. Das hielt nur nicht lange an… Jetzt habe ich ein nachhaltiges Gefühl, mein altes Leben sortiert zu haben, deutlich aber noch nicht abgeschlossen. Es gäbe natürlich noch Schubladen, die sortiert werden müssten. Ob ich das bei manchen Schubladen überhaupt will? Es geht erst einmal weiter ohne Sybille. Ich muss ja auch weitergehen, mir blieb nichts anderes übrig. Damals hatte ich die Chance der Klarheit kurzzeitig gesehen, aber die Zeit, meine Zeit war damals wohl noch nicht reif dafür. Dass das mit so einer schmerzlichen Erfahrung einhergehen würde, war gelinde gesagt nicht nett. Jetzt bin ich selber mit meiner Trauerarbeit(ja, das ist wirklich Arbeit…) vor allem immer wenn es ging positiv angegangen und das wirkt einfach nachhaltiger als so ein Medikament. Insofern kann ich inzwischen sagen, dass ich wohl gestärkt aus der ganzen Zeit rauskommen werde. Das dafür der Tod in mein Leben rücken musste, finde ich unfair, akzeptiere das aber nun. Es gehört nun zu mir dazu, gehe das aktiv, aber immer liebevoll an. Wie ist der Titel eines guten Trauerpodcast, den ich gerade höre:“Liebevoll trauern“. Ja, das mache ich doch auch und geholfen hat mir dieser Podcast auch immer. Er war ständiger Begleiter bei meinen Zeiten auf dem Rad, oder wenn ich mal nicht schlafen konnte.
Was wird nun mit meiner Trauer. Ich weiss es natürlich nicht, werde mich aber dem Kommenden einfach stellen. Achja die Zukunft. Die Gedanken daran hatte bei mir immer auch einen großen Haufen der Angst produziert. Der ist jetzt aber auch irgendwie verschwunden.Wo doch der Tod nun mein neuer Begleiter ist, so kann die Angst davor mir nichts mehr anhaben. Ich habe das wertvollste was ich hatte verloren, aber die Liebe hat der Tod mir nicht genommen. Die nun „neue“ Liebe zu Sybille und der aufkommende Wunsch meine Liebe irgendwann auch mal physisch wieder weitergeben zu können entfaltet sich gerade. Ich merke, wie mein Herz sich weitet und sich da noch viel Platz zeigt. Die Trauer wird nie gehen, ich respektiere sie, nun eben als Teil meines neuen Lebens. Der Schmerz soll weiter weniger werden, aber er darf immer mal aufblitzen auch zu unpassenden Zeiten, ich kann es sowieso nicht verhindern. Sybille wäre ganz stolz auf mich und verdammt noch mal, das kann sie auch. Und das ich das weiß und spüre ist, noch so ein guter neuer Wegbegleiter. Das ist die Dankbarkeit, die mich hoffentlich immer begleiten wird. Vergessen werde ich nie.
Das ich jetzt schon so weit gekommen bin in meiner Trauer hätte ich am Anfang nie gedacht, aber es fühlt sich sehr gut an und hilft mir natürlich, meinen Alltag wieder „sinnvoll“ und mit Tatendrang zu leben, es ist weniger bewältigen, sondern mehr damit leben. Das Ganze mit meiner geliebten Sybille, wo auch immer sie jetzt gerade ist, aber sie ist auf jeden Fall ganz nah, nämlich in meinem Herzen.