Aus meinen Notizen der letzten acht Tage auf der Palliativstation
Donnerstag, der. 4.5.
Begleite sie zur Palliativstation. Alles geht merklich ruhiger dort zu. Sofort ist auch der Stationsarzt da. Erst einmal kennenlernen auf beiden Seiten. Bekomme sogar gleich ein Mittagessen von den Pfleger*innen angeboten. Schweigend sitze ich die ersten Minuten alleine mit Sybille auf dem Zimmer, sie ist erschöpft und hat die Augen geschlossen.
Abends frage ich Sybille, ob sie denn noch einmal Live-Musik haben möchte. „Ohja, sehr gerne“ sagt sie sofort. Ihr Cello ist natürlich gesetzt. Sie wollte schon lange ihr Instrument noch einmal hören. Ihr fällt aber kein Stück ein und etwas mit Klavierbegleitung möchte sie auch nicht. Dann Quartett frage ich? Nach kurzer Überlegung meint sie nur „Schubert“ und ich weiß, sie meint natürlich das Quintett C-Dur. Um 21.30 Uhr hab ich mich dann entschlossen, meine Kollegin Svenja zu fragen und um 22.15 Uhr war alles für den nächsten Tag organisiert.
Freitag, der 5.5.
Ist heute überhaupt der richtige Zeitpunkt für Musik? Sybille ist sehr müde und wirkt sehr unruhig, trinkt aber in einem Zug ihren Lieblingsdrink, bestehend aus Trinkjoghurt und Hafermilch. Sie geniesst den Drink richtig. Bleibe mittags da und gehe in der Kantine etwas essen. Viele Gedanken gehen mir durch den Kopf, Erinnerungen an vergangene Zeiten, die zahlreichen Notfälle, bei denen ich den Krankenwagen rufen musste, meine täglichen Sorgen und jetzt wieder einmal auf einer Palliativstation. Ich fühle mit Schmerz den wohl jetzt nahenden Tod von Sybille. Das wird für mich immer klarer, aber reden darüber….?
Nach ihrem Mittagsschlaf ist Sybille viel besser drauf und freut sich schon auf das „Konzert“. Ich gehe runter, um die Kollegen in Empfang zu nehmen. Freue mich auch, bin aber total aufgeregt. Allen ist die Unsicherheit und die Besonderheit dieses Momentes anzumerken und es wird ein ganz spezielles Ereignis.
Alle spüren, in dem Moment genau das richtige getan zu haben. Ich war noch immer ganz aufgeregt, beobachte Sybille und freue mich, dass sie so intensiv zuhört.
Dann im 2.Satz, werde ich von Tränen übermannt. Die Erinnerung an den ersten Noteinsatz und des viel zu langsamen Pulsschlages von unter 30, den ich in der sommerlichen Idylle des Vorgartens aus dem Krankenwagen hörte, wird im Schubert noch einmal ganz reell.
Aber schließlich bin ich überglücklich, ihr so einen letzten Wunsch erfüllt zu haben. Beim Abschied fragt Sybille doch glatt Sean: „Brauchst du noch Nachschub?“. Insider wissen genau Bescheid, was Sybille so ganz „cool“ meint. Allen anderen bleibt es ein „Geheimnis“ zwischen den beiden und das verrate ich hier natürlich nicht. So war, ist und wird Sybille immer für mich bleiben. Immer einen gewissen Schalk im Nacken und überraschend, oft egal wie es ihr persönlich ging. Denn oft sah man das Leid ihr garnicht an, sie sah oft wie das blühende Leben aus. So war die MS und auch der Krebs. Und Sybille wie ein Fels in der Brandung, einer Kämpfernatur.
Samstag, der. 6.5
Sybille ist noch ganz begeistert von der Musik, fragt, ob es denn den Kollegen auch gefallen hätte. Ja, natürlich hat es ihnen gefallen! Nach meiner Frage, wie sie denn geschlafen habe, war erst kurz Pause, dann sagte sie kurz und ein bisschen verzweifelt. „Ja, eigentlich gut, aber morgen kann es ja schon wieder anders sein.“ Mein Versuch sie aufzuheitern gelingt mir mit den Worten: „Aber gestern war doch ein schöner Tag und heute ist es auch so und was morgen ist, schauen wir einfach dann. Sybille muss schmunzeln. Das folgende Arztgespräch am Nachmittag über die gesamte Situation in ihrer Anwesenheit nimmt sie ruhig war, aber ich spüre, sie hadert gewaltig mit der Situation. Ich spreche aber mit ihr nicht (mehr) darüber. Ich finde auch keine tröstenden Worte….in dem Moment. Das es garnicht mehr zu irgend einem richtigen Gespräch kommt, ahne ich da leider noch nicht….
Sonntag, der 7.5.
Habe ihr ein paar Bilder von uns mitgebracht, die auch schon in Greven hingen. Sie freut sich und will auch speziell ein Foto vom Quintett haben, um das auch dem Chefartzt zu zeigen, mit dem sie am Morgen noch ein langes Gespräch über ihr Cello hatte. Auch der digitale Bilderrahmen ist dabei und so kann sie immer mal wieder hinschauen und dann sieht die vielen Erinnerungen, von Urlauben und von den Geburtstagen der Kinder und, und, und. Das hat sie zuhause auch gehabt und meinte oft „Weisst du noch…?“ oder „Ach schau mal!“ Richtig etwas essen tut sie am Mittag nicht. Meinen Haferdrink mit Trinkjughurt aber geniesst sie immer.
Nachmittags bin ich wieder da und sie freut sich auch, aber ein richtiges Lächeln kommt nicht über Ihr Gesicht. Versuche ansatzweise ihr ein Gespräch zu entlocken, aber ich merke, es arbeitet in ihr und sie will nicht sprechen und somit schließt sie ihre Augen immer wieder. So bleibt nur streicheln und einfach nur da zu sein. Ich bin ziemlich traurig und (ich denke) sie auch. Wenigstens spürt sie meine Nähe. Was soll man auch sagen… Sie hat die Augen viel geschlossen und dann schläft sie ein. Sie schläft immer viel und ich sitze neben ihr, betrachte sie, voller Liebe… Gönne mir einen (schlechten) Cappuccino auf der Station. Wieder zurück im Zimmer gibt es von mir sanfte Streicheleinheiten über den Kopf und als ich ihr später sagen muss, dass ich ja jetzt wieder nachhause muss und Ping versorgen, so wie so oft in den letzten Wochen und Monaten, da sagte sie schließlich einfach „Ja, mach das.“
Montag, der 8.5.
Bin gegen 10.30 auf der Station und finde sie sehr abwesend und sehr unruhig vor. Sie schaut mich an, aber reagiert nicht wirklich. Sie scheint weit weg zu sein. Ein Küsschen auf den Mund weckt dann doch etwas in ihr und sie erwidert ihn. Sie hatte wohl ganz unruhig geschlafen, sagt die Pflegerin. Außerdem ist der Tremor stärker geworden und sie bekommt jetzt wieder einmal etwas mehr zur Beruhigung. Ich zeige ihr neue Fotos, vom Konzert und von uns vieren aus dem letzten Urlaub, die ich morgens schnell habe bei Rossmann ausdrucken lassen. Ich hänge sie dann an die Wand gegenüber dem Bett. Und dann schläft sie schnell wieder ein.
Ich entscheide mich, die letzten Tage zu notieren. Ich habe das unbedingte Bedürfnis etwas aufzuschreiben, weil ich mit ihr nicht mehr richtig reden kann. Sie war die letzten Tage schon immer mehr ins sich gekehrt und sie scheint nun auch nicht mehr zu wollen. Das kann ich alles in der Situation gut verstehen. Jetzt, auf dem Rücken liegend, ist sie ganz entspannt und schnarcht, was ich so von ihr nur selten gehört habe, vielleicht weil ich einfach einen tiefen Schlaf habe. Sie liegt normalerweise sonst auch immer auf „ihrer“ Seite und jetzt eben auf dem Rücken, da ist Schnarchen fast „normal“. Für mich ein Zeichen, dass sie anscheinend ganz entspannt ist. Ich kann sie streicheln und sie wird garnicht wach dadurch. Schreibe weiter meine Gedanken der letzten Tage in mein Handy. Gut, dass man das heutzutage so machen kann.
Nach dem Schreiben der Zeilen sitze ich weiter neben ihr und betrachte sie sehr lange… und kämpfe mit den Tränen. Ansonsten ist mein Kopf gerade sooo leer. Das anschließende Arztgespräch gibt mir keine Hoffnung mehr… Ihre Lebenswille scheint einfach zuende zu sein, aber weiss man das genau? Ich spüre es – irgendwie. Alles läuft jetzt quasi wie im Film ab, ich sehe mich von aussen wie ich funktioniere. Anruf bei Mirjam, whatsapp an meine Lieblingskolleginnen, Essen zuhause, mit den Hunden auf den Platz u.v.m sind mein weiterer Tagesablauf. Alles alleine, wie so viel zu häufig in den letzten Jahren… …und viel Weinen ist nun auch wieder mit dabei.
Um 15.15 Uhr bin ich wieder auf Station, ein „Hallo, mein Engel“ und Küsschen von mir, ein ganz kurzer Blick von ihr – das war’s…. Mir fällt auf, das ich eigentlich seit ihrer Krebsdiagnose sie immer öfter als „meinen Engel“ bezeichne, nicht mit Absicht, das kam einfach so. Wenigstens schläft sie jetzt ruhig und ich gönne mir einen Cappuccino, diesmal mit zusätzlichem Espresso, so schmeckt das Automatengebräu erträglicher und ich lese die Zeitung… Was stand da eigentlich drin? Wieder sitze ich lange neben ihr und schweige… Abends dann kommt das tägliche Abschiedsritual von mir – von ihr kommt nichts mehr. Waren das also gestern wirklich schon ihre letzten Worte, die sie zu mir sagte?
Dienstg, den 9.5.
Nach meiner Therapie fand ich mein tägliches Foto in unmittelbarer Nähe der Praxis und ist das Foto nicht symbolträchtig?
Wenig später war ich wieder im UKM. Sybille wirkt etwas unruhig als ich sie anfasse, sie liegt auch nicht auf „ihrer“ Seite…. Im Radio beginnt gerade die Alpensinfonie, eines „unserer“ Stücke. Auf der Fahrt zur Klinik war es Smetana „Aus meinem Leben“ – wie passend, wie emotional und wie tränenreich. Jetzt Strauss, noch so ein Stück… Ob sie mit mir zugehört? Ich kann die Tränen nicht mehr unterdrücken, wozu auch….
Dann am MIttag der Besuch ihrer Geschwister und ihrem Vater. Und sie mitten dabei, oder schon anderswo? Wie werden es wohl nicht erfahren. Bei unsern angeregten Gesprächen bleibt sie die ganze Zeit ruhig. Es ist für alle trotz allem ein schöner Nachmittag, sogar mit Schnittchen, achja und grandiosem Ausblick auf Münster zwischendurch mal im Cafe 21. Am Abend bin ich wieder ganz alleine mit Sybille. Ich fühle, dass das am Nachmittag ein weiterer Abschiedsschritt für mich von ihr war und ein dazu schöner, wenn man das so sagen kann, bei all der Traurigkeit. Ich denke auch das Konzert am Freitag war so ein wichtiger Moment, den mir niemand mehr nehmen kann. Diese Gedanken beruhigen mich irgendwie in dem Moment.
Mittwoch den 10.5.
Heute morgen ganz früh eine Runde mit Ping gemacht, denn ich bin wieder einmal schon sehr früh wach, wie jeden Morgen seit einiger Zeit schon bevor Sybille auf die Intensivstation kam. Als ich so spaziere und über die letzten Tage, über gestern und über den schönen Abschied der Geschwistern von Sybille nachdenke, stelle ich fest, dass ich ja vermutlich wohl nicht mehr mit ihr reden werde können. Was würde ich ihr alles noch sagen wollen? Dabei fallen mir ihre letzten Worte „Ja, mach das.“ wieder ein und ich glaube, das wird mein Motto werden und mich immer motivieren, es einfach zu tun.
Bei ihr im Zimmer angekommen merke ich gleich, dass ihr Atem wieder etwas schwerer geworden ist und sie bekommt dafür mittags ein Röhrchen durch die Nase, um besser Luft zu bekommen. Dadurch sind auch die Atemgeräusche wieder weg. Caroline, eine langjährige Kundin und inzwischen gute Freundin kommt zu Besuch, um auch von ihr Abschied zu nehmen. Ansonsten bleibt es ein ruhiger Tag. Habe das Bedürfnis, Sybille zu fotografieren.
Das Röhrchen in der Nase stört…aber ich lenke den Blick auf Details. Abends verabschiede ich mich von ihr mit den schon üblichen Worten aber sage ihr noch: „Wenn du gehen willst, dann mach das, ich komme morgen früh aber wieder zu dir…“ Wie schon viele Nächte vorher so konnte ich diese Nacht wieder nicht gut schlafen. Ich hatte vom Arzt zusätzlich ein Antidebressivum bekommen, was auch etwas „sediert“, aber ich traue mich das nicht zu nehmen, damit ich nachts eventuell schnell in die Klinik kommen könnte, wenn ich angerufen werde. Wieder einmal ruhig ausschlafen zu können, verschiebe ich einfach mal….
Donnerstag 11.5.
Und dann kam der Anruf aus der Klinik, ich solle sofort kommen, Sybilles Atmen würde immer langsamer. Ich wollte sowieso bald losfahren, lasse aber jetzt den frisch gemachten Tee stehen und fahre sofort los. Unterwegs auf dem Rad zum UKM kommen mir so viele Gedanken… Einer ist, dass ich fühle, dass ich vielleicht schon zu spät da sein werde. Meine Gedanken dabei: wenn das jetzt genau umgekehrt wäre, ich stürbe und Sybille würde kommen und ich wäre schon Tod. Dann hätte sie vielleicht gesagt: „Hättest du nicht noch ein bisschen warten können?“ So ist sie, war mein nächster Gedanke, immer für einen liebevollen Scherz bereit und auch sich nicht zu ernst nehmend. In weiteren Gedanken versunken und heute mal ohne Podcast auf den Ohren, erreiche ich bei schönstem Sonnenschein das UKM. Auf der Station erwarten mich schon eine Pflegerin und der Stationsarzt und ich fühle, sie ist schon gegangen. Sie bestätigten es und ich musste kurz lächeln…, der Hals schnürt mir aber fast die Luft ab, ich breche in Tränen aus und bitte die Pflegerin, mich sofort in den Arm zu nehmen……. Sie bringen mich ins Zimmer. Sybille liegt so da wie ich sie am Abend verabschiedet hatte, ganz freidlich. Einziger Unterschied, sie atmet nicht mehr. Meine Gedanken kann ich nicht mehr wiedergeben, ich nehme sie einfach in den Arm und weine…..lange… Die Pflegerin lässt mich alleine, ich sitze dann lange neben Sybille und betrachtete meine Sybille, meinen Engel. Ich erinnere mich an die Gedanken von gestern. Spätestens jetzt ist sie für mich wirklich mein Engel.
Es gibt jetzt viel zu organisieren, erst einmal aber ganz schwere Anrufe bei Mirjam und Julia. Die restliche Verwandschaft ist nicht direkt erreichbar, aber es gibt ja Whatsapp und das mache ich alles neben Sybille sitzend, wie oft im letzten gut halben Jahr. Ich kann es noch kaum begreifen, obwohl ich es ja sehe, dass sie nicht mehr atmet, nicht mehr da ist.. Gefühlt macht sich große und ganz tief sitzenden Dankbarkeit breit, die mich auch aufhören lässt zu weinen und selbst etwas zur Ruhe kommen. Gefühlt sehr lange betrachte und streichele ich sie, ganz ruhig… Mittags komme ich mit Julia wieder, um ihre Sachen zusammenzupacken, mache ein letzte Foto, denn jetzt mit geschlossenem Mund scheint sie sogar etwas zu lächeln.
Es brauchte fast eine Woche, beim Besuch bei einem meiner Brüder und bei einer schönen Wanderung mitten im Wald, um ganz plötzlich den Verlust mit großem Schmerz und einem heftigen Heulkrampf erstmals nach Sybilles Tod raus zu lassen. Dazwischen konnte ich viel über die gesamte Situation und über den Verlust mit vielen Menschen sprechen, ohne das ich weinen musste und es überhaupt konnte. Gottseidank kann ich inzwischen auch über meine Gefühle reden, dank der therapeutischen Hilfe, die ich an meinem absoluten Tiefpunkt im Oktober mir geholt habe. Ich fühle mich derzeit wie unter einer Glocke, geschützt vor emotionalen Ausbrüchen, immer mit unendlicher Dankbarkeit verbunden und voller Traurigkeit, für meine geliebte Sybille, meinem Engel.